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Schnell erkannte Yoko, dass sie die einzige war, die, obwohl mit Kostüm und Bluse korrekt gekleidet, dem Dresscode des Konzerns nicht entsprach. Die insgesamt 8 Frauen, die außer ihr im Raum waren, trugen allesamt trotz abgeschalteter Klimaanlage mindestens einen Rollkragenpullover, Ms. Tashiko und Hellen sogar zwei. Alle sieben Kolleginnen verstummten schlagartig, als sie Yoko kommen sahen. Ms. Tashiko ging so knapp hinter ihr, dass es den Eindruck vermittelte, sie würde jeden Moment mit einem Fluchtversuch rechnen. Genau genommen lag sie damit gar nicht mal so falsch. Denn ein paar Sekunden lang hatte Yoko mit dem Gedanken gespielt, einfach umzudrehen und davon zu rennen, als sie die Assistentin erblickt hatte. Jetzt hingegen schien sie sich in das unvermeidliche gefügt zu haben. Sie kannte die strengen Regeln und während bei ausländischen Angestellten in den ersten Wochen noch Warnungen ausgesprochen wurden, erwartete man von japanischen Mitarbeitern von Beginn an absoluten Gehorsam. Immerhin kannten diese Personen die Tradition des Koromogae oder hatten sie, wie Yoko selbst sogar die Kindheit hindurch befolgen müssen.
Yoko, der Name bedeutet soviel wie „Sonnenkind“ hatte diese Tradition in ihrer Kindheit zur Genüge kennen und fürchten gelernt. Obwohl man annehmen sollte, dass diese Erfahrung es einem leichter machen sollte, diese Vorschrift ungeachtet der klimatischen Voraussetzungen zu befolgen, war es Yoko schon immer schwer gefallen, diese und andere Traditionen zu befolgen. Das lag vermutlich daran, dass sie im Gegensatz zu ihrem Bruder mehr nach ihrer Mutter kam, welche zwar japanische Großeltern hatte, selbst aber in den vereinigten Staaten geboren war. Als Tochter eines Diplomaten war sie viel in der Welt herumgekommen, bevor sie sich in Yokos Vater verliebt hatte, und ihm zuliebe ihr bislang internationales Leben und ihre westliche Lebensart aufgegeben hatte. Dabei war es auch ihr oft schwer gefallen, die strengen Sitten und Gebräuche zu befolgen, nach denen ihr Mann und dessen Familien lebte, aber sie sah es als ihre Pflicht an, sich so gut sie nur konnte, zu bemühen. Diese Opfer war ihr als das Mindeste an Liebesbeweiß erschienen, immerhin hatte ihr Mann seine gesamte Karriere durch die Heirat einer Gaijin aufs Spiel gesetzt. Lediglich die Tatsache, dass May in Japan hoch angesehene Urgroßeltern hatte, hatte letztendlich die gesellschaftliche Reputation ihres Mannes gerettet. Doch akzeptiert wurde sie deshalb nie richtig in der japanischen Gesellschaft. Sie änderte die Schreibweise ihres Vornamens auf Mai, was soviel wie „Tanz“ bedeutet, und hielt sich stets im Hintergrund.
Im Laufe der Jahre wuchs Ansehen und Vermögen der Familie, und ihr Mann verlangte eine absolute Einhaltung sämtlicher Regeln die er selbst oder die japanische Tradition ihr auferlegten. Das ging soweit, dass sie auch Strafen erdulden musste, wenn sie es trotz jahrelanger Übung nicht geschafft hatte, die Sitten und Gebräuche perfekt zu praktizieren. Yoko hatte dies als kleines Kind nicht so mitbekommen und später war sie auf teure Privatinternate geschickt worden, wodurch sie bis ins Teenageralter wenig davon bemerkte, was sich hinter der perfekten Fassade so abspielte. Nicht dass ihr Vater ihre Mutter geschlagen hätte, nein, er benutzte die Tradition des Koromogae auf subtile oder wenn man will auch hinterlistige Weise, um seiner Frau Strafen aufzuerlegen. Zudem trug Mai oft den traditionellen Kimono, unter dem es ein Leichtes war, absichtlich zu warme Kleidung zu verbergen. Als Yoko es dann doch bemerkte, kam es zu einem langen Mutter-Tochter Gespräch, nachdem das junge Mädchen ein wenig mehr von dem zu verstehen glaubte, was man als Liebe bezeichnete.
Trotzdem war sie überglücklich gewesen, als sie sich mit dem Wunsch, nach Harvard zu gehen, durchsetzen hatte können. Sie hatte die Freiheit genossen, die ihr dort geboten worden war, und empfand die Disziplin, die dort auf schulischem Gebiet gefordert wurde, regelrecht als Erholung. So promovierte sie mit „summa cum laude“ und eine erfolgreiche Karriere im Topmanagement war in absolute Reichweite gerückt. Aber zuvor galt es, Berufspraxis zu sammeln, und dazu gab es nun mal in den USA kein renomierteres Unternehmen als den Nakamiro-Konzern.
Ob diese aussichtsreiche Karriere nun einen Knick erfahren würde, war in dem Moment Yokos geringstes Problem. Nakamiro-San hatte den Raum betreten und sie nach einer steifen Verbeugung an der Stirnseite des langen Konferenztisches gesetzt. Seine Assistentin verteilte Fragebögen, und jede Mitarbeiterin trug in Stichworten ihre derzeitigen Projekte, Kunden und Pläne ein. Das geschah absolut schweigend, und während Nakamiro-San die Berichte überfolg, lastete dieses Schweigen schwer im Raum. Dann stellte der Konzernchef Fragen und machte je nach Antwort kleine Randnotizen. Diese Randnotizen waren im Konzern legendär. Sie konnten eine sofortige Gehalterhöhung, Beförderung aber auch Versetzung oder Lohnkürzung zur Folge haben und alle Kolleginnen von Yoko waren gespannt, wie sich dieses Gespräch entwickeln würde. Was die beruflichen Leistungen betraf, konnte sich Yokos Erfolg sehen lassen. Trotz der kurzen Zeit, die sie nun im Außendienst war, hatte sie einige viel versprechende Projekte an Land gezogen, und alle staunten, dass die Fragen und Yokos Bericht so abliefen, als wäre die jungen Frau eben so warm und winterlich gekleidet, wie alle anderen im Raum. Es war auch nur Yokos ausgezeichnetem Fachwissen und ihrer Selbstdisziplin zu verdanken gewesen, dass sie, fast wie in Trance im Stande gewesen war, die Fragen zu beantworten. Obwohl Nakamiro-San kein Wort über ihr Outfit verlor sprach sein Blick Bände. Schließlich war die Sitzung beendet, und alle Frauen beeilten sich, den Raum nach entsprechender Verabschiedung zu verlassen. Der Konzernchef beugte sich kurz zu seiner Assistentin und flüsterte ihr etwas zu. So als ob Ms. Tashiko es geahnt hatte, lief sie den Frauen hinterher und hinderte Yoko mit festen Griff daran, sich ebenfalls aus dem Staub zu machen. „Einen Moment noch, Ms. Yoko, Nakamiro-San hat ihnen noch etwas zu sagen“ erklärte sie mit kaltem Ton. Yokos Kinie wurden noch weicher, als sie ohnedies schon waren, und sie ließ sich widerstandslos in den Raum zurückführen.
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