Koromogae – Japanische Tradition

Als Yoko die wenigen Schritte zu den Umkleidekabinen entlanglief, ahnte sie nicht, dass in wenigen Augenblicken ihr Leben eine entscheidende Wende nehmen würde. Sie war gerade von einem Termin bei einem Kunden zurückgekehrt, und hatte noch im Firmenwagen via Telefon erfahren, dass für 15:00 eine Besprechung im Firmenhauptquartier angesetzt worden war. „Verdammt“ hatte sie noch geflucht, als sie die Verbindung unterbrechend die Fahrspur auf der fünfspurigen Autobahn gewechselt hatte, und am LAX, dem International Airport Los Angeles vorbei in Richtung Süden unterwegs war. Durch den fast permanenten Stau auf dem Highway wurde es eng werden, noch rechtzeitig den Exit 33 zu erreichen, der sie auf direktem Weg in die US-Zentrale des Nakamiro-Konzerns bringen würde. Tatsächlich schaffte sie es nur knapp, und partek ihren Ford auf dem Mitarbeiterparkplatz des Geländes. Mit einer Sporttasche in der Hand lief sie quer Über den Parkplatz und verfluchte die schon enorme Kraft der Frühlingssonne in Kalifornien. Es war Ende Mai und das Thermometer stieg am frühen Nachmittag nicht selten auf annähernd 30 Grad, dabei konnte man noch froh sein, dass Los Angeles fast permanent von einer Dunstglocke gegen noch stärkere Sonneneinstrahlung geschützt wurde. Nakima schwitzte trotz der des leichten Sommerkostüms und der weißen Bluse enorm. Beim Kunden hatte es wenigstens eine Klimaanlage gegeben, doch in ihrem Wagen war sie abgeschaltet, und vor allem durch das feste Korselett, welches sie zusammen mit einem Baumwollschlüpfer unter den Nylons und der Bluse trug, ließen sie ganz schon erhitzt das Gebäude durch den Nebeneingang betreten.

Blickte auf die Uhr und sah, dass sie kaum noch 12 Minuten Zeit hatte, um sich umzuziehen. Normalerweise hätte sie das auf einem Parkplatz unweit der Zentrale erledigt, doch aus Zeitmangel war sie dieses weiter gefahren, und wollte sich in einer der Duschen schnell umziehen. Dabei hoffte sie inständig darauf, weder auf den Konzernchef Mr. Nakamiro noch auf seine Sekretärin Ms. Tashiko zu treffen. Denn sie verstieß gerade gegen eine japanische Tradition die, trotzdem sie sich in der US-Zentrale befanden, so strikt einzuhalten war, als ob es sich um eine der zahlreichen Sicherheitsvorschriften handeln würde. Mr. Nakamiro oder besser Nakamiro-San, wie er von allen Mitarbeitern genannt wurde, war ein absoluter Verfechter von japanischen Traditionen und alten Werten. Er selbst ging dabei stets mit gutem Beispiel voran und trug bis zum 1.6 jeden Jahres seine Winteranzüge. An diesem Tag fand das so genannte Koromogae statt, der „Frühjahrstermin“ des zweimal im Jahr stattfindenden Wechsels der Garderobe. Die japanische Tradition schreibt vor, dass bis zu diesem Tag die Winterkleidung zu tragen ist, und während in Japan nur noch Schüler auf diesen Termin warten (um die leichteren Schuluniformen tragen zu können) und gerade noch Beamte in Uniform, so hatte in der Geschäftswelt der Brauch an Strenge verloren. So wurde zwar oft noch immer an diesem Tag von Winter-, auf Sommergarderobe umgestellt, bzw. im Herbst das gleiche in die andere Richtung, aber durch Klimaanlagen und ständig neue Modetrends wurde diese Tradition stark unterwandert.

Nicht so im Nakamirokonzern. Sowohl im Stammhaus, dessen Leitung der älteste Sohn vor kurzem übernommen hatte, als auch in den diversen Tochtergesellschaften galt ein strikt an den Koromogae angelehnter Dresscode. Dabei wurde nicht nur erwartet dass dieses ungeschriebene Gesetz von den zahlreichen Japanern, die weltweit für Nakamiro arbeiteten, befolgt wurde, sondern auch die im jeweiligen Land einheimischen Mitarbeiter wurden dazu buchstäblich genötigt. Während es für neu eingestellte Mitarbeiter weniger Probleme bereitete, die hellen Sommeranzüge für die Monate Juni bis September aufzusparen war es für Mitarbeiterinnen schon problematischer. Ohne dass es explizit gefordert wurde war ein Rollkragenpullover ebenso Pflicht wie zumindest blickdichte Baumwollstrumpfhosen zum Kostüm oder besser noch eine Wollstrumpfhose und ein Twinset welches im Idealfall von einem Blazer oder der Kostümjacke begleitet wurde. Somit war es gerade in südlicheren Ländern schon ein echtes Problem, den Mai oder in wirklich warmen Regionen den ganzen Winter zu überstehen. Gelegentlich kam es natürlich vor, dass Frauen im Mai bei Nakamiro zu arbeiten begonnen hatten und sie so gleich zu Beginn ihrer Laufbahn im Konzern die schwierigste Phase erlebten. So war es unvermeidlich, dass es jemand darauf anlegte, und trotz eindringlicher „Empfehlungen“ den Dresscode nicht einhalten wollte, oder gar offen auf das Recht pochte, sich leichter zu kleiden. Bisher war jedoch kein Fall bekannt, an dem es länger als drei Tage gedauert hatte, bis diejenige entweder „freiwillig“ sogar für einige Wochen in besonders warmer Kleidung zum Dienst erschienen wäre oder sie unter einem nicht zu beweisenden bzw. zu entkräftenden Vorwand fristlos entlassen worden war. Doch das geschah selten, denn die Angestellten im Konzern zählten zu den bestverdienenden in ihrer Branche und jeder war froh, wenn er es schaffte, auf der Gehaltsliste von Nakamiro-San zustehen. Da nahm man diese kleine Unannehmlichkeit schon in Kauf, und ertrug die Tatsache, dass vor dem ersten Juni keine Klimaanlage funktionierte – zumindest nicht auf der „Kalt“-Stufe. Ja man fügte sich sogar in den Umstand, dass selbst die PKW-Klimaanlagen der Firmenfahrzeuge so manipuliert wurden, dass sie vor dem Termin keine Kaltluft produzierten.

Wie schon erwähnt ging Nakamiro-San selbst mit gutem Beispiel voran trug von Oktober bis Mai dreiteilige Winteranzüge und seine Sekretärin und persönliche Assistentin hielt sich natürlich auch überkorrekt an diese Regel. Allerdings sagte man Beiden nach, das Blut in ihren Adern sei so eiskalt, dass sie die warme Kleidung regelrecht brauchen würden. Nakamiro-San pflegte die einzelnen Niederlassungen stets unangemeldet zu besuchen, und so konnte man nie sicher sein, ob er einem plötzlich über den Weg lief. Besonders gefürchtet war jedoch seine Sekretärin. Eine Japanerin in nicht zu taxierendem Alter, unverheiratet und offensichtlich nur auf der Welt, um ihrem Boss zu dienen. Nicht nur indem sie jede Anweisung und Laune so ertrug, als wäre es eine Freude, sondern auch indem sie sich als eifrige Spionin betätigte. Selbst bei Visiten in tropischen Ländern war sie von Oktober bis Mai im dicken Wollkostüm unterwegs, unter dem sie sichtbar zwei Rollkragenpullover trug, selbstverständlich zusammen mit einer dicken Rippstrickstrumpfhose. Eben so, als wäre man im eisigen Sapporo mitten im Winter. Selbst dort hätte der Mantel, den sie trug ausgereicht, um sie vor den kalten Winterstürmen zu schützen, die jedes Jahr das Stammhaus des Konzerns mit einer Eisschicht überzogen. Man munkelte sogar, dass sie stets lange Angoraunterwäsche trug, doch das war nur ein Gerücht, denn glücklicher weise gingen die Vorschriften nicht soweit, auch das zu reglementieren oder gar zu kontrollieren. Einige weibliche Angestellte versuchten gelegentlich, die Vorschriften etwas zu umgehen, in dem sie lange Ärmel nur vortäuschten oder nur an sichtbaren Stellen warme Wollstoffe verwendeten, doch wenn es aufflog, und das tat es fast immer, dann bedeutet dies einen Verweiß im Personalblatt. Um den zu tilgen bedurfte es dann enormer Anstrengungen, sei es auf beruflicher Ebene oder in Form eines freiwilligen „Übererfüllens“ des Dresscodes.