Koromogae – Japanische Tradition

Ein besonderes Problem bestand für die Mitarbeiterinnen im Außendienst. Die Ausreden, warum sie bei hohen Temperaturen oder gar tropisch schwülem Wetter in warmen Rollkragenpullovern und Winterkostümen herumliefen waren oft abenteuerlich und es fiel mit unter schwer, das Angebot, doch was abzulegen auszuschlagen. Außerdem war es gelegentlich ein echtes Problem sich zu konzentrieren, wenn man so schwitzte. Nakamiro-San hingegen schien Eiswasser in den Adern zu haben. Bei Verhandlungen bestand er auf perfekte Kleidung und war bei Geschäftspartnern gefürchtet. Aber die Tatsache, dass er nicht nur den eigenen Erfolg suchte und fand, sondern auch andere „leben“ ließ, hatte ihm weltweit einen ausgezeichneten Ruf eingebracht. Der war dann eben auch so gut und makellos, dass sein diktatorischer Stil in Sachen japanischer Tradition und Dresscode einfach ignoriert wurde.

Yoko war es seit ihrer Kindheit in Japan zwar gewohnt, sich diesem Dresscode zu unterwerfen, ging sie schließlich in eine Eliteschule, aber spätestens seit ihrer Zeit an der Havard-Universität, wo sie mit Erfolg promoviert hatte, fiel es ihr immer schwerer, sich dieser in ihren Augen sinnlosen Tradition zu unterwerfen. Dennoch konnte auch sie nicht gegen den Strom schwimmen, und wenn sie auch erst seit kurzem in Los Angeles war, hatte sie sich im Büro eben doch immer entsprechend gekleidet. Im Rahmen eines Traineeprogramms für Führungskräfte musste sie jedoch auch Erfahrungen im Außendienst sammeln, und da traf sie diese Vorschrift natürlich doppelt hart. Es war Mitte Mai, ihr Ford war in der Konzernfarbe dunkelrot lackiert, und die vielen Minuten oder gar Stunden im Stau auf Kaliforniens Highways waren in der „erwünschten Konzernkleidung“ kaum zu ertragen. So hatte auch sie zu dem Trick mit der Sporttasche gegriffen, wo unter Tennisschlägern und Trainingsanzug ein Fach mit Sommerkleidung mitgeführt wurde.

Doch die Sitzung, an der sie erstaunlicher weise „unbedingt“ teilnehmen musste, bracht ihr Konzept gehörig durcheinander. Zum Glück war sie allgemein beliebt, und der alte Pförtner am Seiteneingang lächelte immer wissend, wenn sie erst unmittelbar vor Betreten des Gebäudes in ihre Jacke schlüpfte, und dabei die Augen verdrehte. So wollte es Yoko eben heute mal riskieren, sich erst in einem der Umkleideräume, genauer gesagt in der versperrbaren Dusche umzuziehen. Vorsichtig lugte sie durch die sich automatisch öffnende Türe und stellte erleichtert fest, dass die Luft rein war. Schnell schlüpfte sie mit einem kurzen Nicken und den Zeigefinger auf die Lippen legend hinein und bog um die nächste Ecke.
Dort erstarrte sie jedoch unvermittelt zur Salzsäule.